Flucht und Vertreibung der Deutschen 1945

Ein familiärer Zeitzeugenbericht

von Chiara Fleßner (Kl. 9)

NS-Regime, Vernichtungskrieg, Holocaust, bombardierte Städte, Vertreibung: Aus dem Geschichtsbuch kennt man die grundlegenden Fakten zum Zweiten Weltkrieg. Dass es Menschen in Kriegszeiten niemals gut ging, sollte jedem bewusst sein. Um mehr darüber zu erfahren, was für Leid sie persönlich ertragen musste, habe ich meine Oma befragt und ein sehr umfangreiches Interview mit teils grausamen Details erhalten. Herauskristallisiert hat sich so etwas wie die Geschichte meiner Familie. Sie wird, wie bei alle Zeitzeugeninterviews, aus einer subjektiven Perspektive erzählt.

Im letzten Weltkriegsjahr 1945 haben die vorrückende Sowjetunion und Polen die deutschen Gebiete West- und Ostpreußen sowie Hinterpommern eingenommen, Häuser besetzt, und alle dort noch lebenden Deutschen mussten fortan für die Polen arbeiten, darunter die Familie meiner Großmutter Frieda. Aus später zu erörternden Gründen war ihr Mann zu Hause in Sollnitz (Landkreis Neustettin/Pommern), weswegen sie zusammen mit ihren beiden Kindern auf sich allein gestellt war. Nach und nach versuchten einzelne Gruppen von Familien, Freunden und Nachbarn in sogenannten Trecks zu flüchten. In einem dieser Trecks befanden sich Frieda und ihre beiden Kinder. Leider schafften sie es zunächst nur ins nächste Dorf Dahlentin, weil sie dann in ein Gefecht gerieten. Bis dieses vorbei war, mussten sie dort verharren. Da sie nur wenig Nahrung besaßen und keine Möglichkeit hatten, welche zu kaufen, hatte meine Uroma die Idee, ein geschlachtetes Schwein zu besorgen, welches bei ihr zuhause gelagert wurde. Ihre Schwiegermutter bat sie, ihre beiden Kinder beim Treck zu lassen, da es als Frau zu anstrengend gewesen wäre, mit zwei Kindern auf einem Fahrrad zu fahren. Doch Frieda bestand darauf sie mitzunehmen, da sie ihrem Mann versprochen hatte, diese nie alleine zu lassen. Später war sie dafür noch dankbar, denn ihre Entscheidung sollte den Kindern das Leben retten.

Als sie nach einigen Tagen zu Hause dann schließlich wieder nach Dahlentin zurück kam, waren die Auseinandersetzungen zu Ende, alle Pferde liefen frei herum und so gut wie alle zum Treck gehörigen Leute waren ermordet worden. Jedoch nicht, wie man nun denken könnte, durch Schüsse. Man fand um die dreißig Leichen, allesamt an Bäumen aufgehängt, ihre Leichen wegen einer Außentemperatur von -17 Grad tiefgefroren. Die Tante meiner Oma hatte sich so stark gewehrt, dass der Strick riss und sie ein weiteres Mal aufgehängt wurde.

Neben meiner Uroma und ihren Kindern gab es eine weitere überlebende Person, ihre Nichte Erna. Man hatte sie in den Wald getrieben, wo man sie, da sie jung und hübsch war, vergewaltigen wollte. Allerdings hatte sie es dann geschafft, sich zu verstecken. Ihre beiden Kinder, 12 und 8 Jahre alt, wurden ebenfalls aufgehängt. Von den dreißig ermordeten Personen, gehörten acht zu meiner Familie, vier davon waren noch im Kindesalter.

Ernas Vater Franz war in Sollnitz geblieben. Vier Wochen nachdem sich dieses Ereignis abgespielt hatte, suchte er nach den Leichen seiner Familie. Merkwürdigerweise waren sie alle von den Bäumen genommen und in Haufen zusammen gelegt worden. Derjenige, der dies getan hatte, musste die Personen gekannt haben, denn sie waren familienweise zusammen gelegt worden. Mit seiner Tochter und meiner Uroma hatte Franz die Leichen gewaschen, auftauen lassen und herrichten müssen. Dann wurden sie, ohne Särge, begraben.

Danach mussten Frieda und Erna wieder für die Polen arbeiten. Erna wurde mit ihren 25 Jahren dermaßen traumatisiert, dass sie psychische Störungen entwickelte. Jeden Abend machte sie sich auf die Suche nach ihren Kindern, obwohl sie eigentlich wusste, dass sie tot waren. Als später ihr Mann aus dem Krieg zurück kam, wollte sie unbedingt ein drittes Kind. Leider bekam dies, vielleicht durch den psychotischen Zustand Ernas während der Schwangerschaft, eine geistige Behinderung, während Erna sich im Laufe der Jahre erholte.

Erna hatte noch eine Schwester, Hertha. Als ihr Verlobter aus dem Krieg zurück kam, wurde ihm mitgeteilt, dass Herthas gesamte Familie gestorben sei. Dass seine Frau in den Wirren der Vertreibung doch überlebt hatte, wusste er also nicht. Er fand eine neue Frau, die er dann auch heiratete. Hertha hatte allerdings durch das Rote Kreuz nach ihrem Verlobten suchen lassen. Als er gefunden wurde und alle Fakten aufgeklärt waren, annullierte er seine Ehe und heiratete Hertha. Deren Vater Franz zog nach Schwerin, wo heute noch Verwandte von mir leben.

Nun zurück zu meiner Uroma Frieda. Ein weiteres halbes Jahr musste sie für die Polen arbeiten, bis eine polnische Frau, mit der sie sich gut verstand, ihr bei der Flucht half. Als sie Rüben zum Markt brachte, versteckte sie Frieda und ihre Kinder unter dem Gemüse. An den Grenzen half ihnen ein Soldat, ein Schwager der polnischen Frau, durch zu kommen. Sie gingen zu einem Hof, der den Eltern von Friedas Mann gehörte. Von dort aus sind sie nach Berlin, wo sie für eine kurze Zeit mit 24 weiteren Menschen, darunter der Frau von Friedas Bruder, in einer kleinen Wohnung in der Brenslauer Straße wohnten. Da die Stadt eine solche Überbelegung jedoch nicht erlaubte, gingen sie ins Durchgangslager Friedland, durch das viele Verwandte in eine neue Region kamen. Dort erfuhr Frieda, dass ihre Schwester in Dykhausen oder Friesland lebte und ist dann zu ihr gereist. Andere Verwandte aus dem Dorf, wie „Tante Menna“, sind nach Wiesbaden gegangen, wo sie als Flüchtlinge in einem Schloss untergebracht wurden. Einige Gefäße aus dem Schloss hatte meine Oma vor einigen Jahren von ihr geerbt.  Wieder andere sind nach Epstorf gegangen. Eine weitere, mir sogar bekannte Person namens Luzi, ist mit ihrer Mutter nach Dortmund gezogen. Ihr Vater kam aus dem Krieg wieder, bekam eine Job im Bergbau und wurde auf dem Weg zur Arbeit von einem Zug überfahren. Auch sie hatte somit einiges zu verarbeiten gehabt.

Während all das passierte, befand sich meine Uropa Hugo im Krieg, danach in zunächst französischer und später auch in russischer Gefangenschaft. 1945 wurde er entlassen. Als er nach Hause kam, musste er feststellen, dass seine Mutter, seine Schwester und sechs weitere Personen aus seiner Familie ermordet worden waren. Er wusste nicht, ob seine Frau und seine beiden Kinder noch leben würden, also suchte er nach ihnen und hatte sie nach einiger Zeit auch tatsächlich gefunden. Zusammen bekamen er und Frieda ihr drittes Kind, meine Oma. Während all den Ereignissen war meine Uroma 27 Jahre, ihr Sohn Otto erst sieben und ihre Tochter Ilse gerade einmal vier Jahre alt. Dennoch verteidigte Ilse ihren Bruder immer während der Zeit in Gefangenschaft, während Otto sich alles gefallen ließ. Im Nachhinein konnte er sogar fast besser Polnisch als Deutsch sprechen.

Bevor sich all das eben genannte zutrug, als das Deutsche Reich sich noch mitten in seinem Angriffskrieg gegen Polen und die Sowjetunion befand, wohnten bei Frieda und Hugo zwei Kriegsgefangene. Einer von ihnen war ein Pole namens Stanislaus. Er soll nett gewesen sein und immer auf Ilse und Otto aufgepasst haben. Deswegen wurden ihm sogar gelegentliche Familienbesuche und das Schreiben von Briefen gestattet. Der andere Kriegsgefangene war ein Franzose namens Emil. Er hasste die Deutschen und machte nur das, was er machen musste. Später wurden beide freigelassen.  

Eine Menge Stoff, aus dem man ein ganzes Buch schreiben könnte! Einzelne Geschichten aus Pommern wurden mir früher von meiner Uroma erzählt, nur kann ich mich leider nicht mehr daran erinnern. Trotz all der schlimmen Ereignisse, die meine Uroma damals mit 27 Jahren erlebt hatte, war sie auch später noch eine sehr kluge Frau. Sie starb 2009 im Alter von 92 Jahren, eine oder zwei anders getroffene Entscheidungen, und sie wäre 65 Jahre früher gestorben.

Meiner Meinung nach können wir aus dieser Geschichte lernen, wie gut unser heutiges Leben in Friedenszeiten doch eigentlich ist. Wir sollten das mehr wertschätzen.

Eine Antwort auf „Flucht und Vertreibung der Deutschen 1945“

  1. Meine Mutter wurde 1933 in Solnitz geboren. Sie ist mit ihrer Mutter mit ihren Geschwistern geflohen. Nach einer Odyssee sind sie in Bitburg Eifel gelandet. Ihr Vater ist im Krieg gestorben und die Mutter heiratete wieder. Sie bekam noch zwei Geschwister.
    Als armer Flüchtling war sie in einer Flüchtlingsunterkunft, die von der Gemeinde zur Verfügung gestellt wurde, untergekommen. Sie lernte einen Mann kennen und bekam 1956 ihr erstes Kind. Wie damals üblich kamen uneheliche Kinder bei der örtlichen Hebamme unter und von dort aus in ein Heim oder zu einer Pflegefamilie.
    Sie lernte 1957 einen jungen Amerikaner kennen, der in Bitburg stationiert war und bekam mich. Wieder wurde ihr ein Kind weggenommen und diesmal kam es zur Adoption. Heirat war noch nicht möglich.
    1961 bekam sie noch ein Kind, sie hatte den Vater geheiratet. Den ersten Bruder konnte sie aus der Pflege herausholen, och war adoptiert.

    So hat jeder Flüchtling sein Schicksal. Was sie auf der Flucht erlebt hat, davon weiß ich nichts.

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